Ich-Entwicklung
Ein ganzer Forschungszweig der Psychologie teilt die Entwicklung eines jeden Menschen in grundlegende, deterministische Stufen ein. Das Konzept ist für den Journalismus äußerst nützlich.
Wie funktioniert Ich-Entwicklung?
Grundvoraussetzung für psychologische Entwicklung ist laut Forschern wie Jean Piaget, Jane Loevinger, Lawrence Kohlberg oder Robert Kegan die Kognition. Genauer: die Fähigkeit, unsere Innen- und Außenwelt immer differenzierter wahrzunehmen und einzelne Objekte in immer komplexeren Zusammenhängen zu sehen.
Je weiter sich unsere Kognition entwickelt, desto weiter scheinen sich auch andere Bereiche unserer Psyche entwickeln zu können. Zum Beispiel die emotionale und interpersonelle Kompetenz oder das Werte- und Moralempfinden. Allerdings ist Kognition für all das zwar eine notwendige, aber keine allein hinreichende Voraussetzung.
Wie misst man Ich-Entwicklung?
Die Entwicklungsschritte werden in der Psychologie nach strengen Methoden gemessen, unter anderem durch Satzergänzungstests und strukturierte Interviews, bei denen geprüft wird, was ein Mensch noch zum Objekt machen kann und was nicht mehr. Es gibt internationale Querschnittsstudien mit Tausenden Teilnehmer:innen. Die Messverfahren werden umfassend auf ihre Objektivität, Reliabilität und Validität geprüft.
Die Messungen zeigen, dass sich kein Ich komplett nur auf einer Stufe befindet; es erstreckt sich oft eher über vier bis fünf. Auf einer aber hat es seinen Schwerpunkt. Und dieser hat großen Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir denken und wie wir mit anderen Lebewesen umgehen.
Was begünstigt Ich-Entwicklung?
Es gibt viele Wechselwirkungen zwischen inneren und äußeren Faktoren. Innere kognitive Entwicklung ermöglicht neue Strukturen im Außen, zum Beispiel Werkzeuge, Gesetze oder das Internet. Neue äußere Strukturen wiederum begünstigen auch die innere Entwicklung von Individuen. Und damit auch die innere Entwicklung von Kollektiven, die ja aus den sich entwickelnden Individuen bestehen.
Dieses Wechselspiel aus unzähligen inneren und äußeren Faktoren ist offenbar der Motor unserer Entwicklung. Und die verläuft aus Sicht vieler Forscher grundsätzlich in eine Richtung: Gesellschaften werden, ebenso wie Individuen, immer differenzierter und komplexer. Trotz aller Krisen und Kriege und dialektischer Gegenbewegungen. Die letzte große Messung in Europa und Nordamerika ergab folgende Verteilung:
Gesellschaftswandel
Mehr als zwei Drittel der Individuen befinden sich demnach auf den Stufen E5 und E6. Die Art und Weise, wie wir in westlichen Gesellschaften zusammenleben, wird davon stark geprägt. Vereinfacht lässt sich sagen: Je mehr Menschen auf späteren Entwicklungsstufen stehen, desto selbstbestimmter, offener und demokratischer kann auch die Gesellschaft sein.
Studien zufolge sind zum Beispiel Denkkonzepte wie Ethnozentrismus und Autoritätsgläubigkeit auf den Stufen E4 und E5 stark ausgeprägt und nehmen danach rapide ab. Ebenso verhält es sich mit moralistischen Einstellungen wie dem Ablehnen von Abtreibungen oder außerehelichem Sex und mit traditionellen Rollen- und Geschlechtervorstellungen. Auch der Journalismus verändert sich von Stufe zu Stufe.
E5: Die Rationalisten
Menschen auf dieser Stufe legen Wert auf die eigenen Besonderheiten und Meinungen. Sie stellen Rationalität über alles, verlassen sich auf Analyse, Messbarkeit und Empirie. Gefühle sind ihnen eher suspekt. Viele sammeln Expertenwissen in einem oder mehreren Bereichen und streben nach Meinungsführerschaft. Sie sind mitunter rechthaberisch und haben etwas starre Vorstellungen, wie die Dinge laufen sollten. Priorisierungen fallen ihnen eher schwer.
Journalismus auf dieser Stufe legt großen Wert auf faktische Korrektheit und ist oft sehr kritisch und pointiert. Die Beiträge sind teils etwas unstrukturiert und mit Details überladen. Im Ton wirkt dieser Journalismus mitunter verurteilend und in seiner Kritik allzu vernichtend – was Leser:innen abstoßen kann. Auch sind Beiträge teils unausgewogen, weil es die Tendenz gibt, die eigene Sicht über alle anderen Meinungen zu stellen.
E6: Die Eigenbestimmten
Menschen auf dieser Stufe ist die Autorenschaft über das eigene Leben wichtig. Sie setzen sich Ziele und streben ihnen strategisch geschickt entgegen. Erfolg ist ein hoher Wert, der Drang zur Selbstoptimierung oft groß. Daher wirken manche Menschen auf dieser Stufe gehetzt. Andere nehmen für den Erfolg Manipulation und Taktiererei in Kauf. Gleichzeitig ist man kooperativ, denn man hat gelernt, dass man nicht Experte für alles sein kann – also andere braucht, um die eigenen Ziele zu erreichen. Es ist vor allem diese Stufe, die die viel zitierte Leistungsgesellschaft prägt.
Journalismus dieser Stufe ist zu großen Enthüllungen fähig. Der Grad der Vernetzung ist hoch, auch schwierige Recherchen werden strategisch geschickt vorangebracht. Beiträge berücksichtigen oft mehrere Meinungen – aber meist nur die aus dem Mainstream. Das könnte erklären, warum Ereignisse wie der Brexit, Donald Trumps Wahlsieg oder Russlands Einmarsch in der Ukraine solchen Journalisten als kaum wahrscheinlich galten. Dramatisieren, Ängsteschüren und Zuspitzen gelten als probate Mittel für den Erfolg. Im Extremfall sogar auch Lügen (Beispiel: Claas Relotius).
E7: Die Pluralisten
Erwachsene der Stufe E7 beginnen zu erkennen, dass die Bedeutung aller Dinge relativ ist. Schon ein Stein am Wegesrand bedeutet für zwei Betrachter etwas völlig Unterschiedliches, je nach sozialer und kultureller Prägung. Die eigene Wahrnehmung wird mehr und mehr relativiert, die Struktur der Gesellschaft hinterfragt. Es gibt viel Toleranz für andere Meinungen – und teils heftige Intoleranz für Intoleranz. Die stärkere Beschäftigung mit dem Innenleben verbessert meist die Empathie, kann aber auch zu zeit- und kraftraubenden Diskussionen über Mikroagressionen führen.
Journalismus dieser Stufe macht oft den eigenen Bezugsrahmen transparent. Man reflektiert, dass man aufgrund der eigenen Prägungen auf einem bestimmten Standpunkt steht – und beobachtet sich selbst beim Beobachten. Ich-Erzählungen sind verbreitet, absolute Formulierungen à la »Sagen, was ist« verpönt. Emotionen und Stimmungen werden oft intensiv wahrgenommen und eindringlich geschildert. All das ermöglicht fein differenzierte Beiträge, kann aber auch in subjetivistischer Banalität, False Balancing oder einem Ertrinken in Perspektiven enden.
Die integrale Synthese
Die meisten von uns stellen die eigene Weltsicht über alle anderen – was endlose, ewiggleiche Debatten nach sich zieht. Ein integraler Journalismus, der die Denklogik und Wertesysteme der verschiedenen Stufen kennt, weist einen Ausweg aus dieser kommunikativen Sackgasse. Er erkennt: Es ist eigentlich alles da, was wir brauchen. Wir müssen es nur auf hilfreichere Weise zusammenführen.
Perspektiven können zugeordnet, gewichtet und zusammengedacht werden. Journalistische Beiträge werden dadurch ausgewogener und sprechen gezielt die Werte und Bedürfnisse mehrerer Entwicklungsstufen an.
Ich-Entwicklung kann zudem den Journalismus selbst ganzheitlicher machen. Die Stärken aller journalistischen Stufen lassen sich bewusst nutzen, Begrenzungen gezielt auflösen.
Im Idealfall entsteht so ein Journalimus, der viele Polaritäten integriert: Er ist kritisch UND konstruktiv. Detailliert UND gut strukturiert. Faktentreu UND empathisch. Empirisch UND phänomenologisch. Berücksichtigt außen UND innen. Bildet Perspektiven innerhalb UND außerhalb des Meinungskorridors ab und priorisiert sie je nach Kontext.